Gestern

Ein Kind des Friedens

Ein langer Weg, der sich ausgezahlt hat: Die schöne, aber beschwerliche Geschichte von 100 Jahre Burgenland.

Bilanz: Oliver Rathkolb

Die Geschichte Europas wird zumeist als Ge­schichte blutiger Kriege erzählt. Sie kann aber auch positiv als Ge­schichte der Friedenslösungen erzählt werden – vom Westfälischen Frieden 1648 bis zur EU, die auf den Trümmern des Zweitem Weltkrieges entstanden ist.

Das Entstehen des Burgenlands ist Teil dieser zweiten Erzählung. Es wur­de in zwei Friedensverträgen (Saint-Germain mit Österreich und Trianon mit Ungarn) vereinbart und nach ver­lustreichen militärischen Auseinan­dersetzungen im Rahmen des Venedi­ger Protokolls 1921 umgesetzt. Trotz der Gewalt-Exzesse mit fast 90 Toten hat sich damals im Burgenland keine „Abwehrkampfmentalität“ entwickelt. Die Beziehungen zu Ungarn sind schon im Laufe der Zwischenkriegszeit rela­tiv eng geworden und haben sich nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und dem EU-Beitritt beider Staaten so in­tensiviert, dass heute von einer neuen pannonischen Region in Europa ge­sprochen werden kann.

36 PKW, 9 LKW und 25 Motorräder

Die Situation dieses ehemaligen Rand­gebiets der ungarischen Reichshälfte der Habsburger Doppel-Monarchie änderte sich auch nach 1921 nicht tief­greifend. Es gab einen sehr hohen An­teil an Agrarwirtschaft und Groß­grundbesitz, Rufe nach einer Bodenreform blieben ungehört. Die Infrastruktur war katastrophal.

Viele Gemeinden hatten keinen An­schluss an den öffentlichen Ver­kehr. 1922 waren im gesamten Bur­genland nur 36 PKW, 9 LKW und 25 Motorräder zugelassen. Der gesamte andere private Verkehr und Handel er­folgte praktisch mit Pferde-, Ochsen- und Kuhgespannen und über das ebenso rudimentäre Eisenbahnnetz. Die wirtschaftlichen Probleme konn­ten erst in der Zweiten Republik besei­tigt werden. In der Wiederaufbaupha­se nützten die Menschen im Burgenland die Chance des langen Wachstums in der Nachkriegszeit und verbesserten mit bewundernswertem persönlichem Einsatz ihre Arbeits- und Lebensbedingungen.

High-Tech und Umweltschutz

Seit den 1960 Jahren entstanden Un­ternehmen mit neuen Arbeitsplätzen im Industrie- und Gewerbebereich, im Tourismus bis zu High-Tech-Unter­nehmen in der Gegenwart, die zu den Austrian Leading Companies gehören. Mit einer neuen Gründerzeit durch EU-Beitritt und Ziel-1-Förderung wurde ein weiter Ausbau der wirt­schaftlichen und kulturellen Infra­struktur erfolgreich realisiert.

Trotz wachsender Wirtschaft ste­hen Umwelt- und Klimaschutz ganz oben auf der politischen Agenda. Kli­maneutralität wird angestrebt; die De­ckung des Strombedarfs durch erneu­erbare Energie ist bereits gelungen. 40 Prozent der Landesfläche stehen un­ter Naturschutz. Hier setzt das Bur­genland neue Maßstäbe.

Sprachliche und religiöse Vielfalt

Neben der Sprachenvielfalt ist die bur­genländische Geschichte auch beein­flusst durch religiöse Vielfalt. Diese reicht von der katholischen Kirche über die evangelischen Kirchen bis hin zu kleinen muslimischen Gemeinden und zuletzt einem orthodoxen Kloster in St. Andrä am Zicksee. Die histori­schen Konflikte spielen heute keine Rolle mehr. Die Erinnerungsorte des jüdischen Glaubens, Synagogen und Bethäuser, Friedhöfe, werden im Bur­genland wieder gepflegt. Die Wieder­herstellung der großen ehemaligen Synagoge in Kobersdorf wurde von der Burgenländischen Landesregierung beschlossen, und das 1972 errichtete Jüdische Museum in Eisenstadt hält die Erinnerung an jüdisches Leben und Kultur seither nachhaltig auf­recht.

Kultur im Burgenland

ist mehr als ein

Festival.

Kultur im Burgenland ist mehr als ein Festival und umfasst sowohl Klassi­ker-Pflege von Joseph Haydn zu Franz Liszt auf höchstem künstlerischem Niveau und mit exzellenten Ausbil­dungsstätten, als auch den Kulturbe­trieb in den Gemeinden – von Ge­sangsvereinen, über Musikkapellen und alternative Kulturzentren bis zu Sommer-Festivals und Konzertevents. Bildende Künstler und Literaten prä­gen ebenso das kulturelle Leben. Schon 1972 proklamierte Kulturrat Gerald Mader einen „umfassenden Kulturbegriff“ und warb für eine „ge­meinsame europäische Kulturhei­mat“, die „Öffnung der Kultur für alle“ verbunden mit einem Plädoyer für „Meinungsvielfalt und Toleranz“.

 

Teamgeist und Zusammenhalt

4.900 Kulturvereine, Sportvereine, aber auch Vereine, die sich dem Schutz und der Unterstützung der Menschen verschrieben haben, wie Feuerwehr, Rettung und viele mehr, bilden ein so­ziales Netz, um im Alltag und im Kri­senfall sofort zu helfen. Teamgeist und Zusammenhalt sind in den Vereins­welten nach wie vor gelebte Alltagsre­alität. Sozialdienste wären heute ohne gemeinnützige Vereine und GmbHs nicht vorstellbar. Dem Burgenland ist es gelungen, innerhalb eines halben Jahrhunderts die extreme Benachtei­ligung im Schulsystem aufzuholen. Anfangs gab es nur zwei maturafüh­rende Schulen, und noch 1937 konnten nur 3 Prozent der Schüler eine vier­klassige Hauptschule besuchen, da Schulgeld verlangt wurde. Heute hat das Burgenland eine der höchsten Ma­turierenden-Quoten Österreichs. Die Zahl der Studierenden ist deutlich an­gestiegen und der Frauenanteil ist in­zwischen höher als jener der Männer.

Innovative Vielfalt

Die burgenländische Identität ist eine höchst moderne Mehrebenen-Identi­tät geworden, die starke Wurzeln in den kulturellen Traditionen der Volks­gruppen hat. So kann sich heute eine Burgenländerin und ein Burgenländer gleichzeitig als Europäer, Österreicher und Burgenländer mit kulturellen kro­atischen, ungarischen oder Roma-Prä­gungen verstehen – eine innovative Vielfalt, die es noch immer selten in Europa zu finden gibt.

© Stefan Knittel

Oliver Rathkolb ist einer der füh­renden Historiker der Republik und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien.