Gestern
Ein Kind des Friedens

Die Geschichte Europas wird zumeist als Geschichte blutiger Kriege erzählt. Sie kann aber auch positiv als Geschichte der Friedenslösungen erzählt werden – vom Westfälischen Frieden 1648 bis zur EU, die auf den Trümmern des Zweitem Weltkrieges entstanden ist.
Das Entstehen des Burgenlands ist Teil dieser zweiten Erzählung. Es wurde in zwei Friedensverträgen (Saint-Germain mit Österreich und Trianon mit Ungarn) vereinbart und nach verlustreichen militärischen Auseinandersetzungen im Rahmen des Venediger Protokolls 1921 umgesetzt. Trotz der Gewalt-Exzesse mit fast 90 Toten hat sich damals im Burgenland keine „Abwehrkampfmentalität“ entwickelt. Die Beziehungen zu Ungarn sind schon im Laufe der Zwischenkriegszeit relativ eng geworden und haben sich nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und dem EU-Beitritt beider Staaten so intensiviert, dass heute von einer neuen pannonischen Region in Europa gesprochen werden kann.
36 PKW, 9 LKW und 25 Motorräder
Die Situation dieses ehemaligen Randgebiets der ungarischen Reichshälfte der Habsburger Doppel-Monarchie änderte sich auch nach 1921 nicht tiefgreifend. Es gab einen sehr hohen Anteil an Agrarwirtschaft und Großgrundbesitz, Rufe nach einer Bodenreform blieben ungehört. Die Infrastruktur war katastrophal.
Viele Gemeinden hatten keinen Anschluss an den öffentlichen Verkehr. 1922 waren im gesamten Burgenland nur 36 PKW, 9 LKW und 25 Motorräder zugelassen. Der gesamte andere private Verkehr und Handel erfolgte praktisch mit Pferde-, Ochsen- und Kuhgespannen und über das ebenso rudimentäre Eisenbahnnetz. Die wirtschaftlichen Probleme konnten erst in der Zweiten Republik beseitigt werden. In der Wiederaufbauphase nützten die Menschen im Burgenland die Chance des langen Wachstums in der Nachkriegszeit und verbesserten mit bewundernswertem persönlichem Einsatz ihre Arbeits- und Lebensbedingungen.
High-Tech und Umweltschutz
Seit den 1960 Jahren entstanden Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen im Industrie- und Gewerbebereich, im Tourismus bis zu High-Tech-Unternehmen in der Gegenwart, die zu den Austrian Leading Companies gehören. Mit einer neuen Gründerzeit durch EU-Beitritt und Ziel-1-Förderung wurde ein weiter Ausbau der wirtschaftlichen und kulturellen Infrastruktur erfolgreich realisiert.
Trotz wachsender Wirtschaft stehen Umwelt- und Klimaschutz ganz oben auf der politischen Agenda. Klimaneutralität wird angestrebt; die Deckung des Strombedarfs durch erneuerbare Energie ist bereits gelungen. 40 Prozent der Landesfläche stehen unter Naturschutz. Hier setzt das Burgenland neue Maßstäbe.

Sprachliche und religiöse Vielfalt
Neben der Sprachenvielfalt ist die burgenländische Geschichte auch beeinflusst durch religiöse Vielfalt. Diese reicht von der katholischen Kirche über die evangelischen Kirchen bis hin zu kleinen muslimischen Gemeinden und zuletzt einem orthodoxen Kloster in St. Andrä am Zicksee. Die historischen Konflikte spielen heute keine Rolle mehr. Die Erinnerungsorte des jüdischen Glaubens, Synagogen und Bethäuser, Friedhöfe, werden im Burgenland wieder gepflegt. Die Wiederherstellung der großen ehemaligen Synagoge in Kobersdorf wurde von der Burgenländischen Landesregierung beschlossen, und das 1972 errichtete Jüdische Museum in Eisenstadt hält die Erinnerung an jüdisches Leben und Kultur seither nachhaltig aufrecht.

Kultur im Burgenland
ist mehr als ein
Festival.
Kultur im Burgenland ist mehr als ein Festival und umfasst sowohl Klassiker-Pflege von Joseph Haydn zu Franz Liszt auf höchstem künstlerischem Niveau und mit exzellenten Ausbildungsstätten, als auch den Kulturbetrieb in den Gemeinden – von Gesangsvereinen, über Musikkapellen und alternative Kulturzentren bis zu Sommer-Festivals und Konzertevents. Bildende Künstler und Literaten prägen ebenso das kulturelle Leben. Schon 1972 proklamierte Kulturrat Gerald Mader einen „umfassenden Kulturbegriff“ und warb für eine „gemeinsame europäische Kulturheimat“, die „Öffnung der Kultur für alle“ verbunden mit einem Plädoyer für „Meinungsvielfalt und Toleranz“.
Teamgeist und Zusammenhalt
4.900 Kulturvereine, Sportvereine, aber auch Vereine, die sich dem Schutz und der Unterstützung der Menschen verschrieben haben, wie Feuerwehr, Rettung und viele mehr, bilden ein soziales Netz, um im Alltag und im Krisenfall sofort zu helfen. Teamgeist und Zusammenhalt sind in den Vereinswelten nach wie vor gelebte Alltagsrealität. Sozialdienste wären heute ohne gemeinnützige Vereine und GmbHs nicht vorstellbar. Dem Burgenland ist es gelungen, innerhalb eines halben Jahrhunderts die extreme Benachteiligung im Schulsystem aufzuholen. Anfangs gab es nur zwei maturaführende Schulen, und noch 1937 konnten nur 3 Prozent der Schüler eine vierklassige Hauptschule besuchen, da Schulgeld verlangt wurde. Heute hat das Burgenland eine der höchsten Maturierenden-Quoten Österreichs. Die Zahl der Studierenden ist deutlich angestiegen und der Frauenanteil ist inzwischen höher als jener der Männer.
Innovative Vielfalt
Die burgenländische Identität ist eine höchst moderne Mehrebenen-Identität geworden, die starke Wurzeln in den kulturellen Traditionen der Volksgruppen hat. So kann sich heute eine Burgenländerin und ein Burgenländer gleichzeitig als Europäer, Österreicher und Burgenländer mit kulturellen kroatischen, ungarischen oder Roma-Prägungen verstehen – eine innovative Vielfalt, die es noch immer selten in Europa zu finden gibt.

© Stefan Knittel
Oliver Rathkolb ist einer der führenden Historiker der Republik und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien.